Haben Häuser eine Seele? Wenn überhaupt, wohl nur durch ihre Bewohner. Auch meine Omi zog hier ein, zusammen mit ihrem dreiundzwanzigjährigen Sohn. Der war Hafenarbeiter der ersten Stunde, Stauer, Kranführer, das volle Programm, ein Arbeitsleben im Dreischichtsystem für den Hafen. Ich sehe ihn noch, wie er winkend an der Straße stand, als der Möbelwagen aus Rehna um die Ecke bog. Da war mein Onkel allerdings in Uniform. Einer der ersten Wehrpflichtigen der DDR, auf Kurzurlaub.
Ziemlich genau zum sechzigsten Jahrestag seiner Grundsteinlegung soll dieser Block nun abgerissen werden. 60 Jahre, das ist deutlich weniger als unsere Lebenserwartung. Und tatsächlich waren hochbetagte Mieter, die von Anfang an hier wohnen, genötigt auszuziehen. Auch dieser Block galt einmal als modern, mit Gas-Boilern und Einbauküchen. Fast der gesamte zweite Wohnkomplex von Mendelejew- bis Majakowskistraße wurde im Zweischichtsystem in etwas über einem Jahr hochgezogen und war im Jahr 1963 bezugsfertig. Nahezu 30 Blocks, dazu die Osthalle.
Die Ankündigung der WG Schiffahrt-Hafen, diesen Block abzureißen, stieß auf entschiedenen Widerstand eines Großteils der Mieter (siehe Südstern 27, S.6). Auf die Frage, was den Abriss des Hauses so zwingend notwendig macht, konnte ich nirgends eine befriedigende Antwort finden. Es scheint, dass der Abriss die wirtschaftlichste Lösung in einem Gesamtkonzept darstellt, nachdem mit dem Erwerb des Nachbargrundstücks mit zwei Neubauten geplant werden konnte.
Die Wohnungsgenossenschaft Schiffahrt-Hafen hat sich das Streben nach Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben und dies vielfältig auch praktiziert. Im konkreten Fall sieht es aber anders aus. Es mutet wie Wegwerfmentalität an, wenn Beton abgerissen wird, um mit Beton neu zu bauen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Sanierung, Umwidmung und Verdichtung statt Abriss und Neubau. Laut Weltklimarat gehen drei Milliarden Tonnen CO2 jährlich allein auf die Produktion von Zement zurück. Das ist dreimal so viel wie der Flugverkehr verursacht und sind fast zehn Prozent des vom Menschen gemachten Treibhausgases. Der Energieverbrauch für die Graue Energie, bei Herstellung, Transport und Entsorgung, ist in der CO2-Bilanz nicht adäquat eingepreist. 2023 steht ein neues Gebäudeenergiegesetz an und eine Überprüfung, ob die Graue Energie einbezogen wird und Anreize zum Betonsparen auf den Weg gebracht werden. Höchste Zeit.
Man mag zugutehalten, dass die Planungen der Genossenschaft zu diesem Projekt zehn Jahre zurückreichen. CO2-Einpreisung und unser aller Bewusstsein werden hoffentlich Veränderungen bringen.
Schiffe können untergehen. Das wissen die Menschen hier. Unsere Fiete Schulze. Unsere Böhlen. Aber Häuser? Möge dies der erste und letzte völlig intakte Südstadt-Block sein, der abgerissen wird.
Roland Urban